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Frankreich: Der kranke Mann Europas

von Raoul Sylvester Kirschbichler Anthony de Jasay zählt heute zu […]

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Anthony de Jasay

von Raoul Sylvester Kirschbichler

Anthony de Jasay zählt heute zu den großen Liberalen. Er ist ein konsequenter liberaler Denker, der sich nie einer bestimmten Denkschule verbunden fühlte. Er glaubt den richtigen Weg gefunden zu haben, um die sozialistische Ideologie mitsamt dem Wohlfahrtsstaat entwurzeln zu können. Im Hayeksaal setzte er sich mit der kranken Wirtschaftsmacht Frankreich auseinander.

De Jasay ist überzeugt, dass die heutigen Sozialdemokraten an verworrenem, konfusen Denken leiden, das in Widersprüchlichkeit gipfelt, aber auch in dem Unvermögen die Konsequenzen ihrer politischen Ideen abschätzen zu können.

„Klare Gedanken sind“, laut de Jasay, „die wirksamste Waffe“. Wer zwingenden Argumente etwa gegen Umverteilung oder soziale Gerechtigkeit oder für ein klares Verständnis von Gerechtigkeit sucht, findet sie in de Jasay´s Publikationen. Der heute verbreitete, vermeintliche gesellschaftliche Grundkonsens, wie die Forderung nach Chancengleichheit, ist nicht mehr als Papageiengeschwätz.

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Download de Jasays Vortrag im Friedrich a. v. Hayek Institut (English)

De Jasasy geht es darum, den politischen und somit auch den wirtschaftlichen Liberalismus neu und eindeutig zu formulieren. Seine Basis bildet eine gefestigte Erkenntnistheorie. Er geht davon aus, dass der Einzelne in seinem Handeln grundsätzlich ´frei´ ist und auch ´frei´ sein soll, solange nichts dagegen spricht, es also keine begründeten Einwände gibt.

De Jasay’s Sozialordnung stützt sich demnach auf Privateigentum, auf freiwillige Verträge bzw. Vertragsbeziehungen, die sich auf gegenseitiges Vertrauen stützen. Bewundernswert und einzigartig ist seine scharfsinnige Logik, mit der er Denkfehler jener politischer Philosophen offenlegt, die den Staat als allwissende notwendige Instanz bezeichnet haben, die das öffentliche Interesse auch durchzusetzen vermag, um am Ende die soziale Gerechtigkeit auf ihre Fahnen schreiben zu können.

Wenige Wochen vor den Wahlen zum EU-Parlament hat Anthony de Jasay im Hayek-Saal in Wien erneut zu den aktuellen wirtschaftspolitischen Entwicklungen in Europa Stellung genommen. Dabei hat er Frankreich, den kranken Mann Europas, wie er seine Wahlheimat nennt, genauer unter die Lupe genommen.

Anthony de Jasay:

„Ist es wirklich unfair Frankreich herauszuschälen und einzig und allein Frankreich als den ´kranken Mann Europas“ zu bezeichnen? Sind nicht alle Länder erkrankt? Ich denke es hat schon seine Berechtigung, dass ich mich heute auf diesen einzigartigen Krankheitsfall „Frankreich“ konzentriere. Alle anderen Staaten haben Probleme, Frankreich ist aber wirklich ernsthaft krank. Deswegen möchte ich heute zunächst an die Symptome erinnern, die bereits ausführlich in den verschiedensten Medien kommentiert und analysiert wurden. Dabei könnten wir Frankreich auch als einen kranken Körper bezeichnen.

Als erstes Krankheitssymptom möchte ich die offensichtliche Unfähigkeit des Immunsystems herausgreifen, in irgendeiner Weise auf die Krankheit zu reagieren. Der Körper reagiert einfach nicht, die Politik produziert in erster Linie theoretische Ansätze zur Frage, wie man die Dinge wieder in Ordnung bringen könnte.

Doch letztendlich geschieht nichts und ich bin mir auch sicher, dass sich auch künftig nichts Substantielles verändern wird, weil der kranke Körper einfach nicht die Fähigkeit besitzt, auf die Fehlentwicklungen zu reagieren und diese auch zu korrigieren.

Wenn wir das zweite Krankheitssymptom beschreiben möchten, müssen wir zunächst einmal einen Blick auf die Arbeitslosenstatistik werfen. Seit Jahren liegt sie bei 11 Prozent. Die Franzosen sehen darin eine Art Stabilität – das Sozialsystem sei demnach recht stabil, wie auch eine stabile Arbeitslosenzahl zum Ausdruck bringt. Allerdings, wie ich meine, auf einem unakzeptablen hohen Niveau, deswegen würde ich hier eher von Stagnation als von Stabilität sprechen.

Als drittes Symptom das Haushaltsbudget herauszugreifen wäre sehr einfach, auch weil es gigantisch hoch ist. Seit den 70-iger Jahren wächst es stetig an, obwohl es immer wieder große Versprechen gab, das Defizit zu reduzieren. Es geht mir eher um das Zahlungsbilanzdefizit, es verdeutlicht am besten, ob sich eine Volkswirtschaft vorwärts oder rückwärts bewegt.

Und als letztes Symptom lassen sie mich den Anteil der öffentlichen Hand an den Gesamtausgaben Frankreichs erwähnen. Dieser Anteil liegt offiziell bei rund 57 Prozent, ich vermute aber, dass er wahrscheinlich sogar bei 60 Prozent liegt. Vorweg verbraucht der Staat einmal zwischen 57 und 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Somit nimmt sich der Staat selbst den Spielraum, aus dieser zu tiefst unbefriedigenden Situation herauszukommen. Der Einzelne hat darauf keinen Einfluss, er wird nur angehalten, den notwendigen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt zu leisten.
Nun aber zu den Ursachen:

An dieser Stelle muss die Beziehung zwischen dem französischen Staat und den Gewerkschaften erwähnt werden. Nur 7 Prozent der Beschäftigten sind auch Gewerkschaftsmitglieder (ungefähr 4 Prozent befinden sich im Staatsdienst, rund 3 Prozent kommen aus der Privatwirtschaft.) Obwohl es nur so wenige Mitglieder gibt, sind die Gewerkschaften mächtiger als die Regierung. Daran hat sich seit der Studentenrevolte 1968 nichts geändert. Frankreichs politische Klasse ist überzeugt, dass die Gewerkschaften Verbündete sind, vor allem in einem Dreieck zwischen Regierung, Gewerkschaft und der kapitalistischen Industrie. In allen großen Konflikten hat die Regierung immer die Position der Gewerkschaften bezogen und hat Druck auf die Privatunternehmen ausgeübt.

Eine weitere Ursache, die vielleicht ein wenig abstrakt klingt, ist das Fehlen der geistigen Fähigkeit die Realität zu diagnostizieren. Wie komme ich zu einem solchen Schluss?
Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei rund 25 Prozent. Alle Wirtschaftsexperten sind sich einig, dass ein sehr hoher Mindestlohn – in Frankreich liegt er bei 9,60 Euro pro Stunde – einen bestimmten Teil von Arbeitnehmern vom Arbeitsmarkt vorweg einmal ausschließt, weil sie nur zu einem niedrigeren Mindestlohn angestellt werden können. Betroffen sind zwischen 500.000 und eine Millionen Menschen in Frankreich, vorwiegend Jugendliche und schlecht ausgebildete Arbeitskräfte.

Weshalb sich Frau Merkel zu einem Deal mit den Sozialdemokraten eingelassen hat, der den deutschen Mindestlohn mit 8,50 Euro pro Stunde festlegt, kann ich beim besten Willen nicht verstehen. Zudem dieser Mindestlohn, wenn man sich alle Ausnahmeregelungen dazu ansieht, leicht umgangen werden kann. Im Vergleich zum deutschen Mindestlohn müsste der französische bei ungefähr 6 Euro pro Stunde liegen, aber er liegt, wie erwähnt, bei 9,60 Euro.

In der öffentlichen Debatte heißt es dann, es sein unfair zu erwarten, dass Menschen von einem solchen Mindestlohn leben können, um ihn irgendwie zu rechtfertigen, aber die Nachteile werden dabei ignoriert. Am liebsten würde man vermutlich sogar 14 Euro pro Stunde bezahlen, doch dafür gibt es kein Geld.
Wenn wir uns die Realität ansehen, die 99 Prozent der Franzosen ignorieren, dann ist dieser verrückt hohe Mindestlohn nicht nur für die hohe Arbeitslosigkeit mitsamt den damit verbundenen Kosten mitverantwortlich, sondern auch für den Produktionsrückgang. Alles mündet in einem viel zu hohen Budgetdefizit. Würden sich Franzosen an der Realität orientieren, dann würden sie realisieren, was sie wirklich haben, welche Ressourcen ihnen tatsächlich zur Verfügung stehen.

Im gesamten französischen Denken gibt es aber eine weiteren wichtigen Aspekt, den ich hier erwähnen möchte, der auch die französische Ignoranz gegenüber der Realität widerspiegelt. Es lässt sich in dem Wort „Peinlichkeit“ [besser vielleicht Beschwerlichkeit oder Unbehagen der Arbeitsumstände; Anm. d. Redaktion] zusammenfassen.

Weil die Menschen nur für ihre Arbeit bezahlt werden, nicht für die Umstände, in denen diese Arbeit verrichtet wird, hat Frankreich ein neues System eingeführt, das die Peinlichkeit der ausgeführten Arbeit bewertet und berücksichtigt. Auf der Angestelltenkarte eines Beschäftigten wird beispielsweise vermerkt, dass der Angestellte zwei Stunden mit der Peinlichkeit von Grad 4 [Beschwerlichkeit oder Arbeitsumstände Anm. d. Redaktion] gearbeitet hat, weil z.B. die Halle, wo er seine Arbeit verrichtet hat, schlecht ventiliert war. Die Höhe des Pensionsanspruches hängt letztendlich auch vom Grad der Beschwerlichkeit ab.

Abschließend noch ein Wort zu den unzähligen Berichten, Listen und Informationen, die ein Unternehmen jeden Monat an die Regierung schicken muss. Normalerweise ist dafür ein eigener Angestellter notwendig, der sich wirklich mit der Bürokratie auskennt, denn das gesamte System ist sehr komplex und sehr kompliziert. Vor allem dann, wenn das Unternehmen mehr als 49 Angestellte beschäftigt. Mehr als 49 Angestellte vervierfachen die Papierarbeit, deswegen versuchen sehr viele größere Unternehmen, auch nie mehr als 49 Angestellte zu haben.

Die französische Wirtschaft liebt es, sich jede Woche sich selbst in den Fuß zu schießen. Es gibt auch aus der Sicht der französischen Regierung keinen Anlass umzudenken: Ein Goldfisch würde sich auch nicht gegen Wasser aussprechen.

Das liegt aber auch daran, dass die Franzosen immer befürchten, dass irgendetwas schreckliches passiert. Sie skizzieren oft Horrorszenarien, die allerdings nie eintreten. Irgendwo schwingt immer die Angst vor einer neuen Französischen Revolution mit. Sie ist im Denken Frankreichs tief verwurzelt und lässt sich nicht so leicht entwurzeln.
Die Talfahrt der französischen Wirtschaft wird sich fortsetzen müssen, ehe die Franzosen überzeugt sind, dass sich etwas ändern muss.“

 

Anthony de Jasay:

Er wurde 1925 bei Aba, einer kleineren Siedlung in der Nähe von Szekesfehervar in den ungarischen Landadel geboren. Er studierte zunächst Landwirtschaftsökonomie in Budapest. Als die Kommunisten an die Macht kamen (1948) floh er nach Österreich. 1950 übersiedelte er endgültig nach Australien. In Perth finanzierte er sich durch Gelegenheitsarbeiten sein Studium der Wirtschaftswissenschaften.
Ein Stipendium ermöglichte es ihm 1955 an die Oxford University zu gehen, wo er am Nuffield College bald zum Research Fellow gemacht wurde. 1962 zog er sich nach Paris zurück und beschäftigte sich als Investmentbanker vorwiegend mit dem Bankwesen. De Jasay war so erfolgreich, dass er sich bereits 1979 in die Abgeschiedenheit der Normandie zurückziehen konnte. Dort lebt er nun seit 30 Jahren als Privatgelehrter mit seiner Frau. Gemeinsam haben sie zwei Töchter.
De Jasay widmet sich ausschließlich der Wissenschaft. Obwohl sein Interesse an der klassischen Nationalökonomie und der Spieltheorie nie ganz verloren ging, gilt sein Denken in erster Linie den Problemen der Sozial- und der politischen Philosophie.
Seine schwache Sehkraft hat sein Arbeitstempo nie beeinflusst. Viele seiner Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen u.a. “The State” (1985), “Choice, Contract, Consent” (1991), “Against Politics” (1997), oder “Justice and its Surroundings” (2002).

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